Wir sagen nicht von ungefähr: „Glauben versetzt Berge“. Ja, Glaubenskraft ist Lebenskraft. Wir hoffen, damit irgendwann gut anzukommen. Als Christen glauben wir, dass unser Leben auf ein Ziel hin ausgerichtet ist; wir sind zuversichtlich, mit unserem Leben letztlich bei Gott anzukommen. Wann? Das ist ein menschlicher Zeitbegriff, wer weiß. Wie? Das ist nicht egal. Darauf haben wir heute schon Einfluss. Zwar wissen wir „weder den Tag, noch die Stunde“ (Matt 25,13), aber anzukommen, das setzt Zielklarheit und Eigenverantwortung voraus. Verantwortung heißt, „Antwort“ zu geben auf die mir gegebenen Lebensumstände. Keine Ausreden. Erst recht sind Lug und Trug existentielle Übel. Oder haben wir vergessen, dass jede Lüge ohnehin in Selbstbelügung gründet?
Sündhaft („Sünde“ bedeutet „absondern“), ja, satanisch („Satan“ bedeutet „der Spalter“) denn auch die spleißend polarisierenden Fake-News alternativen Fakten oder die in perfider Absicht bewusst gestreuten Fehlinformationen, die in subversiven Verschwörungstheorien münden. Statt durch klare Positionen auf ein förderliches Ziel hin gut ausgerichtet zu sein, verirren wir uns, beschuldigen uns gegenseitig und reißen einander blindlings ins Verderben. Wollen wir das? Im Zweifel müssen wir unmissverständlich das Verwerfliche klar und deutlich benennen, denn auch ein „Ist-doch egal“ oder eine gespreizte Toleranz, die Widersinniges deckt, kann schuldig machen.
Gut anzukommen ist denn auch nicht „irgendwie, einfach so“ möglich, sondern in der ehrlichen Absicht, sich dem erstrebenswerten Ziel gern unterzuordnen, weil es Heil, statt Unheil offenbart. Das bedeutet nicht, sich klein zu machen. Im Gegenteil. Wenn ich, gläubig, davon ausgehen kann, dass ich im Leben geleitet bin, muss ich auch bereit sein, in das Geleitetsein einzuwilligen, sonst bleibt alles nur Schall und Rauch. Indem sich aber der eigene Wille bereitwillig mit diesem „übergeordneten Willen“ (Gott) verbindet, erwächst aus dieser Synchronisation Zuversicht und Kraft.
Voraussetzung dafür ist die Demut, kein Kleinmachen seiner selbst, sondern die Bereitschaft, über sich selbst hinaus Größeres anzuerkennen (religio = Rückbindung). Nur so ist ein bejahender Glaube möglich, der allen Anfechtungen standhält. Nur so ist auf Erden auch (ohne Augenwischerei) echte Verantwortung gegenüber der Schöpfung möglich und im Privaten Ehrlichkeit im Umgang miteinander, was letztlich die Vergebung mit einschliesst.
All das Lebensstärkende, was in den Zehn Geboten (Altes Testament, 2.Mos,20) und der Bergpredigt (Neues Testament, Mt 5,1–7,29) grundgelegt ist, ist zwar im Licht der Zeit (beispielsweise das Verhältnis zwischen Mann und Frau) zu reflektieren, wobei jedoch Grundlegendes (Moral) nicht dem Zeitgeist zum Opfer fallen darf. Neunmalkluges Geschwätz kann und darf nicht unveräußerliche Werte und Tugenden aus den Angeln heben. Ebenso wenig gibt es eine Rechtfertigung für Unterdrückung und Drangsal. Desgleichen können Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit weder vernachlässigt noch aufgeschoben werden. Und so wirkt auch der Glaube nicht hypothetisch, er will weder bei besonderen Gelegenheiten erhoben, zerredet, noch nach eigenem Gutdünken aufgeschoben sein, nein, er will sinnvoll eingewoben sein im Hier und Jetzt.
Also nichts aufschieben oder totreden. Schon gar nicht so Wichtiges wie die Liebe oder das Verzeihen. Das ist dem eigenen Gutdünken entzogen. Tolstoi (1828 – 1910) sagt es unmissverständlich: „Liebe in der Zukunft gibt es nicht.“ Das gilt für alles, was uns wichtig ist (oder sein sollte): das gedeihliche Miteinander, der Glaube, Ehrlichkeit, die Liebe, das Verzeihen usw. Ohne Aufrichtigkeit und ehrliche Absicht wird alles nur „zerquatscht“. Mit dem Tod aber endet jede Möglichkeit einer menschlichen Klärung. Das sollte uns jeden Tag neu bewusst sein. So ist auch die Chance einer gegenseitigen Vergebung irgendwann vorbei. „Und vergib uns unsere Schuld“ beten wir, „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Mit welcher Begründung ließe sich das aufschieben? Wenn wir Gott um Verzeihung bitten, dürfen wir sie unserem Mitmenschen nicht verweigern. Mag sich auch der andere widersetzen, so kann ich ihm innerlich aber dennoch verzeihen (und wäre denn auch wieder mit mir selbst im Reinen, mehr kann ich schließlich nicht tun). All das macht nicht klein, es richtet auf, es macht uns aufrichtig und gelassen. Das bringt uns Gott näher.
Die Beziehung zu Gott lässt sich ja nicht von der Beziehung zu den Mitmenschen trennen. Deshalb steht das Vaterunser im Mittelpunkt der Bergpredigt, in der Jesus uns klarmacht, worauf es hier und jetzt im Leben ankommt. Gleichgültigkeit, Unehrlichkeit, Egozentrik und Schuld entfremden einander und entfernen uns von Gott. Oft verschleudern wir dann unsere Lebenskräfte und sind „wie von Sinnen“. So steuern wir, intelligenzbesoffen, auf die Vernichtung unseres eigenen Planeten zu. Nur die Demut hält den Dämon auf Distanz. Ohne Demut steuern Intelligenz, Wissenschaft und Forschung auf die Apokalypse.
Die Realität bezeugt diese Lebensweise. Nicht der sinnvolle Bezug zum Handeln ist der Maßstab, sondern die Gier nach Selbsterhöhung durch Rücksichtlosigkeit. Der Planet fiebert! Die Natur wird zu einem Objekt degradiert und die Achtung vor der Schöpfung als Hindernis der Autonomie beurteilt. Der Planet fiebert. Dennoch missachten wir weiterhin unsere Verwurzelung und „heben ab“ zu hybriden Existenzen, die bereits in der Lage sind, nicht nur die Schöpfung und das Leben aus den Angeln zu heben, sondern gleich auch noch die Welt auf vielseitige Weise auszulöschen.
Ist uns eigentlich bewusst, dass wir bereits auf ein Leben in der virtuellen Welt (Metaversum genannt) eingestimmt werden, wo das Digitale das Analoge dominiert und Kräfte entfesselt werden, die ein Eigenleben mit einer Dynamik entwickeln, wo der Mensch zur Marionette wird? Durch das Einschleusen fremder mRNA (messenger ribonucleic acideine, eine einzelsträngige Ribonukleinsäure, die genetische Information für den Aufbau eines bestimmten Proteins in einer Zelle überträgt) sind wir der Möglichkeit schon recht nahegekommen, dass ein unserer Natur entfremdetes Lebewesen das künstliche Licht eines Labors erblickt. Wollen wir das? Im Zweifel bedarf es der Zivilcourage, das deutlich zu benennen, was als Menetekel droht!
In seinem Werk „Die Physiker“ warnte Dürrenmatt (1921 – 1990), dass die Selbsterhöhung des Menschen unwiderruflich in die Katastrophe führt. Denn jede Kraft, die aus den Angeln gerät, somit weder geerdet noch an eine höhere Macht gekoppelt ist, stürzt irgendwann in sich zusammen. Ist Glaubenskraft aber Lebenskraft, so deshalb, weil ein analoger Sinnbezug gegeben ist, der vor dem „Wahnsinn“ bewahrt. Denn wenn es dem Tun an Besinnung und Zuversicht mangelt, fehlt es zugleich an einem guten Glauben. Darum auch sind Besinnung und Gebet lebensstärkend, ja, lebensförderlich!
Die Evangelien bezeugen die Gebetstreue Jesu. Markus sagt: „Schon in der Morgenfrühe stand er auf und ging hinaus, um zu beten“ (Mk 1,35). Auch uns gilt heute das, was im Römerbrief steht: „Lasst nicht nach im Gebet!“ (Röm 12,12). Schieben wir es nicht auf. Gegen alle Verzweiflung ist nichts so hilfreich wie das Gebet; allein das Gebet stärkt die Glaubens- und damit auch die Lebenskraft. Es gibt keine bessere seelische Orientierung. Nur so bleiben Gott und Mensch sich nicht fremd, auch wenn Gott den Menschen von Anfang an durch und durch kennt.
Gott aber ist heute vielen Menschen fremd geworden. Sie kreisen nur noch um sich selbst, reißen die Kirchen ab und tanzen ums goldene Kalb. Die Geschöpfe wenden sich ab von ihrem Schöpfer. Das kann letztlich nicht gut gehen. Die Zehn Gebote sind und bleiben unbestechlich. Wer aber kennt sie noch? Es ist, als wiederhole sich der uralte Mythos, wonach der Mensch wie Gott sein wollte, dadurch aber am Ende alles zerbrach (Gen 3); so auch im Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9) verdeutlicht. Es ist und bleibt so:
Ohne Gott geht die Welt zum Teufel. Und alles beginnt mit Selbsterhöhung, Eigensucht, Rücksichtslosigkeit, Lug und Trug und Unversöhnlichkeit, mit allem, was im Widerspruch zur Liebe steht (1.Kor,13,1-3). All das bestätigt die These von Dostojewski (1821 – 1881), dass eine Welt ohne Gott im Chaos endet. Mit anderen Worten: Ohne Glaubenskraft verkommt die Lebenskraft.
© Otto Pötter (2022)
Vorwort zum plattdeutschen Gebetbuch