Auf den ersten Blick
hilft nur der zweite

Aphoristische Betrachtungsweisen

 

Zeichnung: Knut Kargel

Sätze, die es in sich haben

 

„Ich, ein Wir-Aphorismus“ – wer würde nicht stutzen bei diesem Satz des Philosophen Manfred Hinrich (1926 – 2015). Ein Satz, der es in sich hat. Und doch sperrt sich dabei etwas im Kopf. Aphoristische Betrachtungsweisen erschließen sich uns erst auf den zweiten Blick.

     Nun müssen uns Sätze, die es in sich haben, nicht immer gleich philosophisch zuzwinkern, sie können auch unmittelbar zünden. Dann könnte es sofort losgehen! Also los: Was mit Rucki nicht geht, geht mit Zucki. Bevor jedoch die Pferde mit uns durchgehen, Stopp. Auf den ersten Blick hilft nur der zweite – das könnte besser sein, als nachher noch mal von vorn beginnen zu müssen. Auf den zweiten Blick wirken auch noch Worte, die es in sich haben. Also: Wäge deine Worte, denn Worte wirken weiter. Wie wir reden, so leben wir.

     Als Dichter „verdichte“ ich Worte durch Ausdruck und Metrik (rhythmischer Versauf-bau) so, dass sie durch eine besondere Intensität wirken; als Schrift-steller stelle ich das Geschriebene mit Bedacht so in Satzzusammenhänge, dass beim Lesen möglichst viele Sinne angesprochen werden. Nehmen wir nur das Wort Heimat oder Nation. Indem unbewusst bei Heimat Behaglichkeit mitschwingt, suggeriert Nation Trompetengeschmetter. So oder so werden wir darauf auch gleich unterschiedlich reagieren. Erstaunlich, oder? Man könnte auch sagen „witzig“, was gar nicht abwegig wäre.

     So schrieb einst Goethe (1749 – 1832) vor einer schweren Entscheidung seinem Freund Eckermann, dass er vor einer Entscheidung erst noch „seinen Witz“ befragen wolle. Im Moment erschiene ihm alles weiterhin zu sperrig. Toll, zeigt es doch, dass nahezu alle klugen Menschen auch einen feinen Humor haben. Sie schießen eben nicht gleich so aus der Hüfte, sondern wägen ihre Worte. Entsprechend sind aphoristische Betrachtungsweisen auch oft witzig; denn sie stellen dem prätentiösen Ich ein Beinchen und – Hoppla – schon sieht da auf den zweiten Blick einiges anders aus. Es zeigt sich, dass Sprache mehr ist als artikulierte Information, von der sogenannten KI ganz abgesehen. 

     Was uns als Menschen über alle Technik hinaus auszeichnet, ist eine Erkenntnisfähigkeit in einem höheren Sinn, ein Denkvermögen, das in seinen Deutungsprismen durch Ansicht, Einsicht, Übersicht und Weitsicht den Ich-Horizont sprengt. Was ich empfange, kommt ungefragt zumeist irgendwo her, unabhängig davon, wie ich es verarbeite und damit umgehe.

     Über mich selbst hinaus wirkt Wunderbares auf mich ein, was darauf wartet, durch mich modifiziert zu werden. Gabe ist Aufgabe zugleich, wobei der Ursprung der Gabe überwiegend jenseits meiner Erkenntnisfähigkeit liegt. Was dabei von mir ausgeht, wirkt ebenso weiter – vom Ich über das Du zum Wir. Ja: „Ich, ein Wir-Aphorismus.“ Das geht so weit, dass im Wort Geschöpf bereits Schöpfung und Schöpfer mit enthalten sind. Für jeden einzelnen bleibt das nicht ohne Konsequenzen. Da möchte durch uns etwas (neu) werden, was zuvor näherer Betrachtung bedarf. Da hilft auf den ersten Blick nur der zweite. Dann kann schon mal ein Satz große Sätze ermöglichen.

     In meinen Seminaren machte ich öfter sehr hilfreiche Erfahrungen mit solchen Sätzen, die es in sich haben. Oft ergaben sie sich einfach so aus dem Zusammenhang. Das führte zu Lichtblicken, die wie Sternschnuppen der Seele plötzlich alle bereicherten und neu motivierten.

     Irgendwann begann ich damit, diese Erkenntnisse und Betrachtungsweisen, die mir zwar eingefallen, nicht selten aber auch zugefallen sind, aufzuschreiben und zu sammeln; sie wären sonst weg. Obwohl ich die Texte formulierte, kristallisierten sich die meisten Sentenzen aus Themen, die sich während der Seminararbeit aus der Gruppendynamik heraus im Brainstorming ergaben (kreativitätsförderndes Unterrichtsformat, das auf spontane Einfälle setzt). Mit Anthony de Mello (1931 – 1987) gesprochen, sah und sehe ich meine Rolle denn auch mehr als die eines Webers und Färbers, der an Stoff und Faden keinen Verdienst hat. Über das Gewirke freue ich mich nichtsdestoweniger und hoffe, dass viele Menschen Freude daran haben.

     Entsprechend meiner Seminarinhalte, gemäß der sinnzentrierten Logotherapie nach Viktor E. Frankl (1905 – 1997), versuchte ich dem Ganzen Struktur zu geben und die Aussagen und Aphorismen den fünf relevanten Inhalten meiner Seminararbeit zuzuordnen. Daraus ergab sich die nachstehende Sammlung.

Otto Pötter
Pfingsten 2023